Originalartikel: https://www.welt.de/regionales/nrw/article190183687/Schulen-mit-Talent.html?wtrid=socialmedia.email.sharebutton
12.03.2019
Auch während des Unterrichts ist in der Pausenhalle viel los: Schüler stehen in kleinen Gruppen beieinander, es gibt ein Café, alles hier ist hell und freundlich. Man sieht dem Alice-Salomon-Berufskolleg in Bochum nicht an, dass es eine Schule ist, die besondere soziale Herausforderungen zu bewältigen hat, wie es korrekt heißt. Von den über 2500 Schülern müssen 750, darunter viele Flüchtlinge, erst einmal so fit gemacht werden, dass sie überhaupt eine schulische Ausbildung beginnen können. Man kann an dem Kolleg aber auch Abitur oder Fachabitur ablegen. Und auf Berufe wie etwa den Fitnessassistenten werden die Schüler hier ebenfalls vorbereitet. So gemischt die Schüler sind, so vielseitig ist die Schule, die sie alle gemeinsam besuchen.
Dieses Bochumer Berufskolleg ist eine von 35 Bildungseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen, die vom kommenden Schuljahr an besonders unterstützt werden. Denn es wurde vom Land als sogenannte Talentschule ausgewählt. Die Talentschulen sind ein bildungspolitisches Projekt der schwarz-gelben Landesregierung, über das CDU und FDP besonders gerne sprechen. Es ist ein auf sechs Jahre angelegter Schulversuch. Die Idee: Schulen mit besonderen Problemen benötigen mehr Lehrerstellen und mehr Geld als Schulen in sozial bessergestellten Stadtteilen.
Schon heute erhalten Schulen in Problemvierteln, von denen es über 1000 in NRW gibt, rund 2800 Lehrerstellen zusätzlich. Das Projekt Talentschulen geht aber weiter und schafft mehr als 400 zusätzliche Stellen. 315 von ihnen werden allgemeinbildende Schulen erhalten, 100 gehen an Berufsschulen. 35 Schulen nehmen ab dem kommenden Schuljahr an dem Versuch teil, zum Beginn des Schuljahres 2020/21 werden weitere 25 Schulen dazukommen. Viele neue Stellen also für wenige Schulen.
Allein für die ersten 35 Talentschulen hatten sich 149 Schulen beworben. 22 der ausgewählten Schulen liegen im Ruhrgebiet, dem Landesteil mit den größten sozialen Problemen. Das Ministerium beauftragte eine Expertenjury mit der Auswahl der ersten 35 Talentschulen. Die Jury habe, so heißt es aus dem Schulministerium, unabhängig gearbeitet und ihre Auswahlentscheidungen auf der Grundlage der Bewerbungsunterlagen und von Daten zum Sozialraum getroffen.
Deutsche und Syrer lernen zusammen
Wahrscheinlich acht zusätzliche Stellen wird Johannes Kohtz-Cavlak, der Schulleiter des Alice-Salomon-Kollegs, bekommen. „Wir erhalten die Förderung für den Bereich unserer Schule, in dem wir Jugendliche auf einen Ausbildungsplatz vorbereiten.“ Als er und seine Kollegen von dem Projekt Talentschule erfuhren, war ihnen sofort klar, dass sie sich bewerben wollen: „Es klang wie für uns gemacht.“ Denn das Berufskolleg ist eine engagierte Schule, die mit den Jugendlichen über alle Grenzen hinweg arbeitet. In gemeinsamen Projekten kommen deutsche und syrische Schüler zusammen, arbeiten ehemalige Förderschüler gemeinsam mit angehenden Abiturienten. Man ist hier stolz darauf, wie sich ehemalige Schüler entwickelt haben; wie es der Schule gelang, des Deutschen unkundige Flüchtlinge zum Abitur und sogar zum Studium zu führen; und wie es immer wieder gelingt, Schüler in wenigen Jahren fit für den Ausbildungsmarkt zu machen.
Mit den neuen Stellen wird die Schule ihre Arbeit weiter verbessern können, da ist sich Kohtz-Cavlak sicher. Aber nicht alle acht Stellen werden Lehrerstellen sein: „Wir werden auch einen Systemadministrator einstellen, um unser Schulnetzwerk zu verbessern.“ Der Träger der Schule, die Stadt Bochum, habe sich außerdem verpflichtet, in die IT des Berufskollegs zu investieren.
Die Opposition sieht die Pläne der Landesregierung kritisch. Sie gehen ihr nicht weit genug. Jochen Ott, der schulpolitische Sprecher der SPD im Landtag, begrüßt dabei generell das Konzept der Talentschule: „Ich halte die Grundidee, dass man Schulen mit besonderen Herausforderungen unterstützt, für richtig.“ Was Ott kritisiert, ist, dass die Landesregierung die Idee der Talentschule erst einmal an wenigen Schulen testen will: „Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Was die Landesregierung da auf den Weg gebracht hat, ist ein Alibimodell“, sagt er.
Ginge es nach der SPD, würden alle Schulen, die in Stadtteilen mit sozialen Problemen liegen, ein Anrecht auf eine besondere Förderung bekommen. Ott verweist auf Hamburg und Berlin, wo es solche Regelungen bereits gibt und entsprechende Listen erstellt wurden. „In Hamburg haben solche Schulen kleinere Klassen. Statt 23 sind dort in den Klassen nur 19 Schüler.“ Ein weiteres Problem sieht Ott darin, dass sich auch Schulen, die für das Konzept der Landesregierung infrage gekommen wären, nicht beworben haben: „Ich weiß von Schulen in Mönchengladbach, die sich nicht um eine Teilnahme beworben haben, weil sie Sorgen um ihren Ruf hatten.“ Talentschule zu sein bedeutet eben, öffentlich zuzugeben, dass man Probleme hat und Hilfe braucht.
Der Siegener Erziehungswissenschaftler Matthias Trautmann hingegen begrüßt, dass es sich bei den Talentschulen um einen begrenzten Versuch mit wissenschaftlicher Begleitung handelt. „Es ist richtig, dass Schulen mit unterschiedlichen Problemlagen auch unterschiedlich behandelt werden“, sagt er. Ideal wäre natürlich, wenn mehr, ja, alle Schulen mit besonderen Herausforderungen gefördert würden: „Natürlich kann man das auch mit 300 oder 1000 Schulen machen, aber da redet dann ja auch der Finanzminister mit. Wenn man nicht mehr Geld hat, hat man nicht mehr Geld.“ Probleme sieht Trautmann aber auch. Zum einen würde ein Teil der neuen Stellen durch Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben aufgefressen, zum anderen sei nicht klar, woher die neuen Lehrer überhaupt kommen sollen: „Gerade in Fächern wie Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften, die ja besonders gefördert werden sollen, fehlen heute schon Lehrer.“
Talentschule für alle wäre unbezahlbar
Zudem sei es wichtig, nicht nur die ausgewählten Schulen zu beobachten, sondern auch die Einrichtungen in ihrer Nachbarschaft: „Wie wirkt sich das auf die Schulen in der Umgebung aus? Was passiert an den anderen Schulen? Schicken engagierte Eltern künftig ihre Kinder auf die Talentschulen und ändern so die Zusammensetzung der Schüler? Das sind alles wichtige und spannende Fragen“, sagt der Experte.
Bildungsstaatssekretär Mathias Richter (FDP) sieht das Problem bei der Auswahl der Schulen ebenfalls, verweist aber auf die Zukunft: „Noch können wir nicht alle Schulen zu Talentschulen machen, weil wir in einen Schulversuch nur eine begrenzte Anzahl von Schulen aufnehmen können. Uns war wichtig, bei der Auswahl der Talentschulen für größtmögliche Neutralität zu sorgen, deshalb haben wir das Auswahlverfahren in die Hände einer unabhängigen Jury gelegt. Unser Ziel ist, die positiven Erkenntnisse aus dem Schulversuch Schritt für Schritt auf alle Schulen in NRW zu übertragen.“
Von denen gibt es allerdings viele: Insgesamt kommt Nordrhein-Westfalen auf 1885 weiterführende und 396 Berufsschulen. Dazu kommen 2787 Grundschulen, die nicht Teil des Projekts Talentschule sind. Sie alle so zu unterstützen wie die ausgewählten Talentschulen käme das Land teuer. Das bedeutete viele Tausend neue Lehrerstellen und Kosten in Milliardenhöhe.