Annette Vogt über Alice Salomon (Quelle: Edition Luisenstadt, 1997)
Das »Cum laude« gelang erst im zweiten Anlauf
Alice Salomon musste zweimal den Antrag auf Zulassung zur Promotion stellen.
Unter den vier Dissertationen zur Nationalökonomie, die zwischen 1899 und 1908 von Frauen an der Berliner Universität eingereicht wurden, ragt eine besonders heraus. Es handelte sich gleichzeitig um den einzigen Fall an der Philosophischen Fakultät, bei dem eine Frau versuchte zu promovieren, abgelehnt wurde, es kurz darauf erneut versuchte und dieses Mal erfolgreich!
Aktiv in der Armenpflege und bei der Errichtung von Kinderhorten
Die am 19. April 1872 in Berlin geborene Kaufmannstochter Alice Salomon hatte am 18. Februar 1905 dem Dekan der Fakultät mitgeteilt, dass sie mit ihrer Arbeit »Die Bestimmungsgründe der ungleichen Entlohnung gleicher Leistungen von Männern und Frauen« promovieren und in den Fächern Nationalökonomie (Hauptfach), Geschichte und Philosophie (Nebenfächer) geprüft werden möchte.1)
Sie schreibt in ihrem Lebenslauf: »Am 19. April 1872 bin ich, Alice Salomon, in Berlin als Tochter des Kaufmanns Albert Salomon und seiner Frau Anna, geb. Potocki-Nelken, geboren. Ich bin mosaischer Konfession. Vom 1. April 1878 bis zum 1. April 1887 besuchte ich die Zimmermannsche Höhere Töchterschule. Seit elf Jahren betätige ich mich auf sozialem Gebiet sowohl in praktischer wie in theoretischer Beziehung. Ich habe mich bei der Organisation der Berliner Armenpflege, bei der Errichtung von Kinderhorten und ganz besonders bei den Fürsorgebestrebungen für Fabrikarbeiterinnen betätigt und leite seit fünf Jahren die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, die eine Ausbildung der Frauen für soziale Arbeit anstreben. Meine Vorbildung zum Universitätsbesuch eignete ich mir in sozialpolitischen Kursen an, die Herr Prof. Max Weber, Prof. Hintze, Prof. von Wenkstern, Prof. Albrecht (von der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen) und Herr Stadtrat Münsterberg in den Gruppen für soziale Hilfsarbeit hielten. Auf Grund einer Arbeit über die Geschichte der Frauenarbeit auf sozialem Gebiet, die im Handbuch der Frauenbewegung (Verlag W. Moeser) erschienen ist und vieler kleinerer wissenschaftlicher Arbeiten erhielt ich die Erlaubnis zum Besuch der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin.
Ich hörte seit dem April 1902 – während sechs Semestern – Vorlesungen der philosophischen Fakultät, und zwar bei den Herrn Professoren Sering, Schmoller, Wagner, Paulsen, Lenz, Hintze, Dr. A. Weber, Dr. Eberstadt, Dr. Jastrow, Dr. Menzer. Ich habe an den seminarischen Übungen der Herrn Prof. Sering, Schmoller, Lenz, Dr. A. Weber, Jastrow, Menzer teilgenommen.«2)
Ein Nein vom »Frauenfeind«, dem Germanisten Gustav Roethe
Die Fakultät hatte das Promotionsverfahren eingeleitet, sie bat ihre Kollegen Staatswissenschaftler Gustav Schmoller (1838–1917), seit 1882 Professor, und Max Sering (1857–1939), seit 1897 Professor in Berlin, das Gutachten über die eingereichte Arbeit zu verfassen. Außerdem richtete sie an das Kultusministerium den Antrag, am 24. Februar 1905 vom Dekan Adolf Erman (1854–1937) verfasst, Alice Salomon zu erlauben, ohne Reifezeugnis zu promovieren. In der Begründung betonte Erman, dass die Referenten ihre Arbeit ausgezeichnet beurteilen würden.3) Daraufhin fragte Friedrich Althoff (1839–1908) vom Ministerium am 11. März 1905 bei der Fakultät an, ob der Beschluss, die Studierende Salomon zur Prüfung und damit zur Promotion zuzulassen, einstimmig gefällt wurde, da dies bekanntlich die Voraussetzung für die Zustimmung des Ministeriums bilde.4) Nun hatte es aber in der Fakultätssitzung am 17. November 1904 über Salomons Antrag 20 Ja-Stimmen und zwei Nein-Stimmen gegeben, letztere vom bekannten »Frauenfeind«, dem Germanistik-Professor Gustav Roethe (1859–1926), und vom Dekan, also von Adolf Erman, Professor für Ägyptologie, was dieser nun dem Ministerium berichten musste. Daraufhin verfügte das Ministerium im Schreiben vom 7. Juni 1905, das wiederum von Althoff verfasst war, dass die Zulassung genehmigt würde unter Befreiung vom Reifezeugnis, »jedoch in der Voraussetzung, daß die von dem Mehrheitsbeschluß der Fakultät abweichenden Stimmen ihren Widerspruch nicht auf besondere Mängel der Dissertation, der Vorbildung oder der sittlichen Qualifikation gründen«.5)
In Salomons Akte zum Verfahren sind Schreiben von Max Sering und Adolf Wagner (1835–1917) erhalten geblieben, die ihre Arbeit loben. Dennoch schrieb die Fakultät am 8. Juli 1905 an das Ministerium, »dass sie schon deshalb nicht in der Lage ist, weiteres derzeit in der Angelegenheit des Frl. Alice Salomon zu tun, da die Dame am 20. Mai ihre Arbeit und ihre Papiere zurückerhalten hat«.6)
Die Fakultät hatte damit strenger entschieden als das Ministerium bzw. sein berühmter Vertreter Althoff. In dem Schreiben bekundete die Fakultät jedoch die Bereitschaft, einen erneuten Antrag von Alice Salomon gemäß der Hinweise des Ministerialvertreters vom 7. Juni zu behandeln. Für dieses Antwortschreiben sind übrigens zwei Varianten in der Akte erhalten geblieben, das eine, oben wiedergegebene, weil vom Dekan Erman abgezeichnete, und ein weiteres, betitelt »Entwurf des Herrn Wagner«.
Der Staatswissenschaftler Adolf Wagner, seit 1870 Professor an der Fakultät, nutzte den »Fall Salomon«, um in seinem Antwortentwurf ein prinzipielles Problem anzusprechen – das der geforderten Einstimmigkeit der Fakultät bei derartigen Anträgen.
Frauen waren abhängig von einer einzigen Stimme
Er schreibt eingangs, die Fakultät wäre bereit, »die genannte Dame zur Promotion zuzulassen«, wenn sie in Zukunft damit von der »Forderung der Einstimmigkeit« entbunden würde. Und dann betont er: »Sie (die Fakultät – A. V.) gestattet sich dabei auch hervorzuheben, dass nach ihrer Ansicht die Forderung der Einstimmigkeit bei Dispensen vom Reifezeugnis unbedingt zu weit geht. Ihre Aufrechterhaltung würde nur dazu führen, ganz wenigen und selbst einem einzigen Mitglied der Fakultät, welches aus welchen Gründen immer eine abweichende Auffassung vertritt, die Macht zu geben, diese seine Auffassung selbst derjenigen der Gesammtheit der übrigen Mitglieder gegenüber durchzusetzen. Wenn z. B. ein einziges Mitglied grundsätzlich der Zulassung von Frauen zum akademischen Studium und zur Promotion entgegen ist, würde es im Stande sein das Studium von Frauen überhaupt zu hindern, ähnlich jedes Dispensgesuch von Personen, deren Vorbildung und Bildungsgang nicht ganz den normalen Bedingungen entspricht, unmöglich zu machen. Wir bitten daher Euer Excellenz auch in Zukunft von der sachlich unhaltbaren Forderung der Einstimmigkeit in Promotionsangelegenheiten, wo es sich um Dispensgesuche handelt, absehen zu dürfen. Wenn hier nicht wie in den meisten anderen Angelegenheiten die einfache Mehrheit der Stimmen genügen soll, könnte unseres Erachtens höchstens die Forderung einer höheren Einheit z. B. von zwei Dritteln gestellt werden. Vollends in so grossen und aus Vertretern so verschiedener Fachwissenschaften bestehenden Fakultäten erscheint ein anderes Vorgehen unmöglich, wenn nicht einzelnen oder selbst einem einzigen Mitglied eine übermässige Macht gegenüber den anderen Mitgliedern gegeben werden soll.«7)
Ein besonderer Paragraf im Immatrikulationsrecht für Frauen
Bei der »einzelnen Person«, die Wagner in seinem Schreiben mehrfach erwähnt, ohne sie zu nennen, handelt es sich um den erst 1902 als Professor für Germanistik berufenen Gustav Roethe, der viele Jahre stadtweit bekannt dafür war, dass er sich selbst noch nach dem Erlass über das Immatrikulationsrecht für Frauen im August 1908 weigerte, Frauen in seinen Vorlesungen zuzulassen.8) Roethes konstante Weigerung hatte beim Erlass über das Immatrikulationsrecht für Frauen vom 18. August 1908 dazu geführt, dass der Paragraph 3 eingefügt wurde, der besagt: »Aus besonderen Gründen können mit Genehmigung des Ministers Frauen von der Teilnahme an einzelnen Vorlesungen ausgeschlossen werden.«9)
Der »Fall Salomon« wurde dennoch eine Erfolgsgeschichte, denn schon im November 1905 stellte Alice Salomon erneut den Antrag auf Zulassung zur Promotionsprüfung und reichte ihre Arbeit »Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit« ein, die auch publiziert wurde.10) In ihrem Lebenslauf, der nun verkürzt war und auch weniger selbstbewusst die eigenen Tätigkeiten hervorhob sowie demutsvoller verfasst war, dankte sie besonders den Professoren Sering und Weber »für das freundliche Interesse, das sie dieser Arbeit geschenkt haben«.
Am 5. März 1906 fand die Promotionsprüfung statt; es prüften sie Max Sering im Hauptfach Nationalökonomie (»gute Kenntnis«), Alois Riehl (1844–1924) im Nebenfach Philosophie (»recht befriedigend«) und Max Lenz (1850–1932) im Nebenfach Geschichte (»voll befriedigend«); die Prüfer einigten sich auf das Gesamtresultat »cum laude«.11)
Nach eineinhalb Jahren erhielt sie die Promotionsurkunde
Die Dissertation begutachteten im Juni 1906 Max Sering und Gustav Schmoller und bewerteten sie mit der selten vergebenen Note »valde laudabile« (lat. weithin zu loben).12) Beide Gutachter waren sich so einig über die Arbeit, dass Schmoller nur »einverstanden« unter das Gutachten von Sering schrieb, was eine in den Geisteswissenschaften selten praktizierte Vorgehensweise war. Mit der Überreichung der Promotionsurkunde am 14. Juli 1906 war das Verfahren erfolgreich abgeschlossen. Die Dissertation erschien in der von Schmoller und Sering herausgegebenen Reihe »Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen« als Heft Nr. 122.
Alice Salomon hat später mehrfach betont, dass sie gern Wissenschaftlerin geworden wäre, die Umstände in Deutschland das aber nicht zuließen. So wurde sie eine auch international anerkannte Leiterin der ihren Namen tragenden Schule in Berlin, in der Sozialarbeiterinnen nach wissenschaftlichen Grundsätzen ausgebildet wurden.
Aus Alice Salomon wurde an der Fakultät noch einmal ein »Fall Salomon«. In den Akten befindet sich ein Schreiben vom 24. April 1939, in dem es lakonisch heißt: »Durch Beschluß der Universität Berlin vom 18. April 1939 wurde der Alice Salomon geboren am 19. April 1872 in Berlin, promoviert am 14. Juli 1906, der Dr. Titel entzogen.«13)
Der Entzug des Doktortitels hing mit der am 28. Januar 1939 im »Reichsanzeiger« veröffentlichten 90. Ausbürgerungsliste zusammen, auf der Alice Salomon (als 98.) mit weiteren 133 Schicksalsgefährtinnen aufgeführt wurde.14) Zu diesem Zeitpunkt lebte sie schon über zwei Jahre im sicheren New York, aber glücklich wurde sie nicht mehr. Alice Salomon starb am 30. August 1948.
Quellen:
1 Vgl. Archiv HUB, Phil. Fak., Nr. 398, Bl. 673–192, hier Bl. 674
2 Lebenslauf von Alice Salomon, Februar 1905, In: Ebenda, Bl. 675–676
3 Vgl. Dekan Erman an das Kultusministerium, 24. Februar 1905, In: Ebenda, Bl. 678–678 R
4 Vgl. Althoff an den Dekan der Fakultät, 11. März 1905, In: Ebenda, Bl. 679
5 Althoff an Dekan Erman, 7. Juni 1905, In: Ebenda, Bl. 681
6 Schreiben der Fakultät vom 8. Juli 1905 an das Ministerium, In: Ebenda, Bl. 690
7 Wagner: »Entwurf« eines Antwortschreibens der Fakultät an das Ministerium, Juli 1905, In: Archiv HUB, Phil. Fak., Nr. 398, Bl. 691–692
8 Vgl. das Schreiben des Kultusministeriums an Gustav Roethe, das seinem Wunsch entsprach, Frauen von seinen Vorlesungen auszuschließen, vom 3. Oktober 1908, In: Archiv HUB,Acte UK R 177, Bd. 1, Bl. 6. Diesen Hinweis verdanke ich Frau Kalb vom Archiv der HUB.
9 Vgl. u. a. in: Archiv HUB, Rektor Nr. 350, (Ottilie von Hansemann- Stiftung), Bl. 1
10 Promotion von Alice Salomon, In: Archiv HUB, Phil. Fak., Nr. 415, Bl. 132–166
11 Vgl. Prüfungsprotokoll, In: Archiv HUB, Phil. Fak., Nr. 415, Bl. 143–143 R
12 Vgl. die Gutachten von Max Sering und Schmollers »einverstanden«, in: Archiv HUB, Phil. Fak., Nr. 415, Bl. 138–139 R (4 Seiten handschriftlich)
13 Archiv HUB, Phil. Fak., Nr. 415, Bl. 145
14 Vgl. Ausbürgerungsliste 90, Nr. 98, vom 28. Januar 1939, In: Ausbürgerungs- Listen, Bd. 1, 1985, S. 118
© Edition Luisenstadt, 1997
www.luise-berlin.de
Alice Salomon als Jüdin
Alice Salomons Herkunft aus einer jüdischen Familie sorgte mehrfach für Probleme in ihrem Leben. Bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft musste Alice Salomon sich für ihre jüdische Herkunft rechtfertigen und wurde durch diese diskriminiert. Beispielsweise zögerten die Mitglieder des Vorstandes des Internationalen Frauenbundes bereits nach Kriegsende des Ersten Weltkrieges 1918, jemanden, der zwar selbst seit 1914 zum Protestantismus konvertiert sei, jedoch einen jüdischen Namen und jüdische Vorfahren habe, zur Vorsitzenden ihres Bundes zu wählen. Als Grund hierfür wurde die Haltung der Bevölkerung angeführt, welche nicht mehr zweifelsfrei diese Wahl gutheißen würde. 1937 wurde Alice Salomon schließlich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, ihrer humanistisch-pazifistischen Ansichten und ihrem internationalen fachlichen Auftreten im Anschluss an eine Forschungsreise von der Gestapo gezwungen zu emigrieren. Bis zur Emigration der 65-jährigen im Juni 1937 arbeitete Alice Salomon selbst für eine Hilfsorganisation für jüdische Emigranten.
Quelle: Sachße, Christoph: Salomon, Alice, in: NDB 22, Berlin 2005, S. 389-391.
Projekt #jüdischesLeben
In einem von Akzeptanz und Solidarität geprägten Schulklima wird die Vielfalt von Kulturen und Traditionen als Bereicherung des Zusammenlebens, ebenso wie für die Bildung einer eigenen Identität erfahrbar. Der inhaltliche Austausch von Menschen mit multikulturellem und multireligiösem Hintergrund ist also für eine demokratische, gerechte und humane Gesellschaft, auf die wir als Lehrerinnen und Lehrer des Alice-Salomon-Berufskollegs vorbereiten wollen, unverzichtbar. Daher definieren wir Vielfalt und insbesondere auch religiöse Vielfalt, Achtung und Toleranz als die tragenden Säulen unseres interkulturellen Leitbildes. Vor dem Hintergrund unseres interkulturellen Leitbildes sowie unserer jüdischen Namensgeberin Alice Salomon, hat eine Gruppe von Schüler*innen und Lehrer*innen an einem Schülerwettbewerb zum Thema „#jüdischesLeben“ teilgenommen:
#ShalomBochum
Ein interaktiver Spaziergang auf den Spuren modernen jüdischen Lebens in Bochum
Im Rahmen der Ausschreibung des Dr.-Otto-Ruer-Preises, welcher von der Jüdischen Gemeinde Bochum und dem Freundeskreis der Bochumer Synagoge ausgelobt wurde, haben Schüler*innen und Studierende des Alice-Salomon-Berufskollegs eine Projektidee unter dem Titel „#ShalomBochum“ entwickelt.
Im Rahmen dieses Projekts wollen die Schülerinnen und Schüler auf öffentliche Orte aufmerksam machen, an denen aktuelles jüdisches Leben stattfindet. Anliegen der Projektgruppe ist es, dass jüdisches Leben nicht immer nur im Zusammenhang mit dem Holocaust und Anschlägen in der Öffentlichkeit steht, sondern Menschen die Möglichkeit erhalten, im Rahmen eines Spaziergangs bzw. einer Rally, aktuelles jüdisches Leben in Bochum kennenzulernen.
Als Stationen wurden von den Schüler*innen und Studierenden ausgewählt:
1. Der jüdische Friedhof an der Wasserstraße
2. Dr.-Ruer-Platz
3. Das Alice-Salomon-Berufskolleg
4. Der jüdische Kindergarten Sternenhügel
5. Neue Synagoge in Bochum
6. Das jüdische Restaurant Matzen
Viel Freude beim interaktiven Spaziergang auf den Spuren modernen jüdischen Lebens in Bochum!